Das erste und letzte Bild der Ausstellung zeigen, wie Turner vielleicht gemalt hätte, wenn er nicht der berühmte Joseph Mallord William Turner geworden wäre, für dessen Bilder ich im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster zwei Stunden lang in Foyer, auf Treppen, in Korridor und Galerie angestanden habe, an einem Tag, als die Ausstellung bereits die 100.000er Besuchermarke überschritten hatte. Blickfang ist gleich im ersten Raum das große Ölgemälde „Fischer auf See“, 1796 entstanden und zuerst ausgestellt in der angesagten Londoner Royal Academy. Da war der Künstler erst 26 Jahre alt. Nur einige Jahre später entstand „Die Sintflut“. Beide Gemälde entsprechen weitgehend der realistischen Malweise, wie sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert üblich war.
Nach dem Horror der elenden Warterei nehme ich das spontane Wow-Gefühl beim Hineinkommen in die heiligen Ausstellungsräume als Parallele zum Titel der Ausstellung: „Horror and Delight“. Schrecken und Freude vermittelt dann auch das Bild, an dem ich sogleich hängen bleibe. „Der Blick von der Teufelsbrücke auf die Schöllenen Schlucht, St. Gotthard-Pass“. Und dieser Blick hinunter an der gewaltigen senkrechten Felswand in die Schlucht ist spektakulär. Ich überlege, woher diese Teufelsbrücke, auf der der Maler steht, wohl ihren Namen hat. Entstanden ist das Bild auf Turners Reise in die französischen und schweizerischen Alpen im Jahre 1802, einer Zeit, als die Überwindung zum Beispiel des Gotthard Passes noch ein richtig gefährliches Abenteuer war. Auf derselben Reise müssen auch Bilder aus weiteren alpinen Gegenden entstanden sein, wie „Der Gletscher Mer de Glace mit Blick auf den Berg Aiguille de Tacul“ bei Chamonix und „Das Felsmassiv Le Pic de l’Oeillette in der Schlucht Guiers Mort, Chartreuse mit dem Blick zurück nach St. Laurent du Pont“ in der Nähe von Grenoble, mir aus Recherchen und Film bekannt wegen des hochalpin gelegenen Klosters „La Grande Chartreuse“.
Spektakuläre Landschaften müssen den jungen Turner wohl fasziniert und inspiriert haben, ebenso wie spektakuläre und katastrophale Geschehnisse darin, wie „Der Niedergang einer Lawine in Graubünden“, entstanden um 1810. Auch die Meeresküsten seiner britischen Heimat lieferten reichlich Inspiration, wie schon im oben gezeigten ersten Ölgemälde „Fischer auf See“. Allerdings malte Turner inzwischen anders. Ihm war es wichtig, Wetterelemente wie Dunst, Nebel, Wind und Sturm so zu malen, wie er sie fühlte nach dem Motto „Atmosphere is my style“. So beim „Seestück mit aufziehendem Sturm“, um 1840 und vor allem im 1842 entstandenen „Schneesturm“, zu dem ich die Informationen der Ausstellung zitiere: „…ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt gibt Leuchtsignale ab. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die „Arielle“ Harwich verließ. Das in Seenot geratene Dampfschiff bildet das Zentrum eines Wirbels aus Dampf, Gischt und Regen und steht für die sinnlosen Bemühungen des Menschen, die Naturgewalten zu bezwingen. Turner malte das Meer nach eigener Aussage so, wie er es selbst erlebt hatte.“ Die Legende, der Künstler hätte sich Stunden lang am Mast anbinden lassen, kann man anzweifeln, in jedem Fall jedoch erkennen: Darstellung des Erlebten ist ihm das Wichtigste.
Diesem Prinzip folgend findet Turner seinen ganz eigenen Stil und wird immer sicherer darin. Wolkenlose Himmel und detailgenaue Darstellungen suchen wir vergebens, die Konturen verschwimmen zugunsten von Licht und Farbe, mit deren Wirkungen Turner so meisterhaft spielt, dass ich sogar die Freude spüre, die er beim Malen empfunden haben muss. Ich frage mich, was diese zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Bilder eigentlich noch von denen moderner Künstler unterscheidet. Ja, ich bin fasziniert von der Schönheit der Darstellung in den Werken, die er auf und nach weiteren Reisen in den Süden geschaffen hat. Da ist „Der Konstantinbogen in Rom“, um 1835 entstanden und „Venedig – Santa Maria de la Salute“ von 1844.
Besuch am 15. Januar 2020