„Wir ist Zukunft“, vollständiger Satz eigentlich, doch er will erst in meinen Kopf, wenn ich aufhöre, nach „Wir“ das Verb „sind“ zu erwarten und das „Wir“ ersetze durch „Zusammenleben“, „Zusammensein“, „Zusammenwohnen“, „Zusammentanzen“ oder „Zusammenwachsen“. Vielleicht zu viert zwischen Tieren und Pflanzen im Wald leben, vollkommen verschmelzen mit der Natur.
In alienartigen Bewegungen rutschen sie kopfüber rücklings eine Sanddüne herunter und krabbeln zwischen Strandhafer herum, wie im ersten Werk, das ich mir ansehe in der Ausstellung „Wir ist Zukunft. Visionen neuer Gemeinschaften“ im Museum Folkwang in Essen. Es ist das 30minütiges Video „Lieder aus dem Kompost: mutierende Körper, implodierende Sterne“ von Eglè Budvytytè (*1982).
Die Künstlerin hat eine harmonisch wirkende Kunstwelt geschaffen, so sehr im Einklang mit der Natur, dass sogar Blätter und Flechten aus einem menschlichen Körper herauswachsen. „Zusammenwachsen“ passt dann auch als Titel des Wandtextes für diesen Bereich. So kann ich mich in der Ausstellung um ein raumgreifendes grüngemustertes Zelt herumträumen.
Es ist die Installation des Künstlers Yussef Agbo-Olas, deren Form dem vom Aussterben bedrohten Pfeilgiftfrosch nachempfunden ist. Visionen von einem Leben in „irdischen Paradiesen“ gab es bereits um 1900 als Folge zunehmender Industrislisierung. Man suchte Lebensräume in klarer Luft und freier Natur. Da zieht sich hoch oben an der Wand Karl Wilhelm Diefenbachs Schattenfries „Per asera ad Astra“ um die Räume herum,
Großartige Gemälde sind zu sehen, teils religiös, teils philosophisch, teils esoterisch geprägt und in Dauerschleife informiert eine interessante Bilder- und Textfolge über „Neue Gemeinschaften um 1900“, wie das Zusammenleben einer Gruppe inmitten der Natur auf dem Schweizer Monte Verità. Der erste Weltkrieg machte manche Träume zunichte. Nach dessen Ende bildete sich in Deutschland eine neue Gemeinschaft von Architekten.
Mit Baustoffen wie Glas und Stahl entdeckten sie ganz neue Möglichkeiten des Bauens und Gestaltens nach dem Moto „Kristalline Architektur“. Wenzel Habliks „Freitragende Kuppel mit fünf Bergspitzen als Basis“ gehört in diesen Bereich. Ein paar Jahrzehnte später beschäftigte sich der holländische Künstler Constant Nieuwenhuys mit dem Modell einer Stadt als „Sozialraum“, der „ein feines Netz menschlicher Beziehungen“ möglich machte.
Constants „New Babylon“ war die utopische Vorstellung von einem Gemeinwesen ohne Grenzen, Konventionen und Verpflichtungen. Spielerisch sollte der Mensch unterwegs sein. Fast zwanzig Jahre lang arbeitete er an diesem Projekt, das er in Modellen und Zeichnungen präsentierte, zum Beispiel die Installation „Klein Labyr“ und den bearbeiteten Stadtplan von Köln.
Das Kapitel „Hippie Modernismus“ lässt mich an die Flower Power Bewegung der 60er denken, die Vision eines nomadischen Lebens, ohne Arbeit, ohne Hierarchie mit viel Kommunikation. 1971 hat die Gruppe Superstudio das Projekt Supersuperficie entwickelt. „Ironisch überspitzte Superstudio darin die utopischen Entwürfe der Moderne und markierte gewissermaßen das Ende der großen Ideen für eine menschengemachte Umgestaltung der Erde“, heißt es im Wandtext.
Und da sind wir schließlich wieder in der Gegenwart. „Zusammenwachsen“ heißt das Motto und die Frage, wie das gelingen kann in der Welt der Bedrohungen durch Klimawandel und Kriege. Mit Emma Talbot gefragt: „Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?“ So verlasse ich die Ausstellung mit dem Gedanken: Wie wird „Wir“ in Zukunft auf unserem Planeten aussehen?
„Wir ist Zukunft. Visionen neuer Gemeinschaften“ im Museum Folkwang Essen am 14. Januar 2024