Wenn man auf Wanderurlaub rund um das Sellamassiv ist, sieht man die Spitze des Piz Boe fast auf jeder Tour, sei es vom Edelweißtal, von den Almen um Col Alto oder von der Skiwiese unterhalb des Boeliftes von Corvara. Wie oft habe ich ihn aus der Ferne betrachtet und fotografiert, mir vorgestellt, dass ich mal dort oben bin und herabschaue auf die gigantischen Riesen, die ihn umgeben. Der Piz Boe ist mit 3152 Metern die höchste Erhebung im gewaltigen Sellamassiv, das man im Winter auf Skiern durch vier Täler und über vier Pässe umrunden kann.
Dieses Jahr ist es endlich so weit. An einem dieser vier Pässe beginnt unsere Tour auf diesen Dreitausender hoch oben auf dem Sella. Von Colfosco aus fahren wir hinunter nach Corvara, über den Campolongopass nach Arrabba und von dort aus in etlichen Kehren auf den Pordoipass, wo wir ganz entspannt aussteigen, parken und uns umsehen können. Das heißt, schon mal hinaufschauen auf den steilen schroffen Felsen, an dem einsam eine Kabinenbahn hinauf- und hinunterschwebt. Diese Bahn nehmen wir und werden in ein paar Minuten unglaublich steil von 2239 m auf 2950 m hinaufgebracht auf den Sass Pordoi.
Nach dem Ausstieg befinden wir uns hoch oben auf dem gewaltigen Sellamassiv, das sich hier oberhalb der Vegetation in einer riesigen Ebene aus hellem Schotter ausdehnt, umgeben von einem weitläufigen Panorama faszinierender Dolomitengipfel und überragt von der kegelförmigen Erhebung, die zwar nicht zum Greifen nahe, jedoch durchaus erreichbar erscheint. Und kühl ist es hier oben, ich packe zum ersten Mal seit fünf Tagen mein Jäckchen aus. Ja, und irgendwie aufregend, das Ganze! Ich hab eigentlich nur eins im Blick: Die Spitze mit dem kleinen Haus in zwar nicht sehr weiter, aber doch in einiger Entfernung. Und ein bisschen Höhe und Steilheit wird abgesehen von den Schotterwegen zu bewältigen sein.
Also los in Richtung unseres Dreitausenders. Der Weg geht zunächst einmal abwärts, zunächst flach, dann ein bisschen steil hinunter bis zur Pordoihütte, wo wir mal einen Blick in die Pordoischarte hinunter zum Pass werfen. Schotterig geht der Weg weiter entlang eines Felsens und durch ein kleines matschiges Schneefeld bis zu einer Fläche, die einer Mondlandschaft gleicht, und kommen unserem Berg langsam näher, schon ahnend, dass es so flach nicht bleibt.
Das Haus auf dem Gipfel ist schon deutlich zu erkennen. Allmählich wird es steil und an einigen Stellen eng zwischen den Felsen. Und es wird noch steiler. Mit Hilfe eines Drahtseils und einigen metallenen Tritthilfen können wir uns hoch hangeln und weiter gehts zur nächsten Steilkehre, zur nächsten felsigen Enge und weiterem Drahtseil. Ganz nah ist das Haus jetzt und ganz schnell geht es die letzten Meter bis ganz nach oben.
Und da ist schon richtig was los. Die Terrasse der Fassahütte ist gut besetzt und die Felsbrocken auf dem Platz davor belagert von Gipfelstürmern. Das tut unserer Freude keinen Abbruch. Wir finden ein Plätzchen und ich versuche erst einmal, mich abzuregen. Das geht am besten mit Trinkflasche, Banane und Brot aus dem Rucksack. Das Jäckchen hatte ich beim schweißtreibenden Aufstieg übrigens längst wieder eingepackt. Bei all der Aufregung fällt mir erst jetzt auf, dass die Sicht gar nicht so prickelnd ist, das macht aber nix. Ich erahne Marmolada und Porta Vescovo und sehe einige Meter entfernt ein Schild mit der Aufschrift WC. Da will ich doch mal hin, komme allerdings nur bis zu besagtem Schild, denn zum WC geht es abgrundtief. Das muss ich jetzt nicht haben und ich muss übrigens auch gar nicht mehr. Wohin ich auch schaue, sehe ich Abgründe. Beim Zurückgehen zu meinem felsigen Plätzchen mache ich mal ein Foto von der munteren Gipfelgesellschaft hier oben auf dem winzigen Plateau in 3152 m Höhe. Ja, und in dem Moment befällt mich die Frage: „Wie komme ich hier eigentlich wieder runter?“ Beim Gang Richtung WC hab ich eine Menge Hinweisschilder gesehen, die ich aber alle nicht einordnen kann. Meine beiden Begleiter halten sich bedeckt. Sie sind auch etwas ratlos, lassen das aber nicht so raushängen. Schließlich entscheiden wir uns, für den Abstieg denselben Weg wie beim Aufstieg zu nehmen.
Über die Bedenken, es könnte an einigen Stellen bei Begegnungen mit Aufsteigern eng werden, setzen wir uns hinweg zugunsten der bekannten Route. Doch zunächst gibt es noch ein paar schöne Gipfelfotos, das hat man sich bei der Besteigung eines Dreitausenders mehr als verdient. Dabei entdecken wir auch ein kleines metallenes Gipfelkreuz mit einem altarähnlichen Tisch davor und ganz viele Leute, die fotografieren und sich mit oder ohne Siegerpose, fotografieren lassen.
Und mir fällt gerade auf, wie kühn die Terrasse der Fassahütte über dem Abgrund schwebt, schnell noch ein Foto. Dann wagen wir uns langsam an den Abstieg und sind überrascht, dass es mit entgegenkommenden Aufsteigern gar kein Problem gibt. Von oben her sieht man, dass es meistens mehrere Möglichkeiten gibt. Nur an einer Kletterseilstelle gibt es einen winzigen Stau, den ich gleich mal für ein Foto nutze.
Überhaupt kann ich sagen, dass der Abstieg weit weniger schweißtreibend ist als der Aufstieg und schon bald gehen wir wieder auf der Schotterpiste und fühlen uns wie auf dem Mond, nur dass wir wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen, nämlich zunächst zur Pordoihütte an der Scharte, wo wir dann auch einkehren und entspannt bei Tee, Saft und Apfelschorle die schöne Tour feiern, die zugegeben an körperlicher Anstrengung nicht allzuviel abverlangt hat und deren Erlebniswert dennoch unvergleichlich schön war.
Nach der Pause heißt es wieder zunächst steil, dann flacher aufsteigen zum Sass Pordoi, wo die Kabine schon zum Einsteigen einlädt. Da sie noch eine ganze Weile auf weitere Passagiere wartet, kann ich jetzt endlich ausgiebig die Serpentinen der Passstraße betrachten, nach allen Seiten Ausschau halten und bekannte Orte wie Canazei im Fassatal, die Marmolada und Arrabba entdecken, dann gemütlich runterschweben zum Parkplatz auf dem Pass Pordoi.
Hier gibt es weitere Berichte und Informationen rund um das Sellamassiv:
Sechs Wanderungen in den Dolomiten
Renates Dolomitenblog